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Anonyme Pipes

Thomas Love

„[…] wenn die Normen der Malerei auf die Probe gestellt werden, wird das, was arbiträr ist, das letzte Wort haben.“[i]

 

Die Ausstellung separate|related besteht aus kleinformatigen abstrakten Studien in lasierender Ölfarbe, die in mehreren Schichten auf Holztafeln mit extrem glatten Kreidegründen aufgetragen wurde.[ii] Ihre Palette ist reduziert, wobei jedes Gemälde bis zu drei gebrochene Farben aufweist: gedämpfte Tertiärfarben wie Koralle, Petrol, Oliv, Rostrot und Violett, oder düstere, eisige Grautöne. Die Kompositionen sind unkompliziert, doch die Farben sind aus vielen dünnen Lasuren aufgebaut, wie sich an der Ansammlung überschüssiger Farbe an den freiliegenden Seiten zeigt. So wird sichtbar gemacht, dass die scheinbare Einfachheit der Farbe und Form durch subtile Korrekturen und Anpassungen aufwändig konstruiert wurde. Die flüssige, mit reichlich Terpentin verdünnte Farbe gleitet über sich selbst und schwemmt manchmal Teile des noch nassen Farbauftrags weg oder bildet Lachen, wenn die Farbe am Rand der Tafel von den Borsten des Pinsels abgestreift wird. Die Pinselstriche sind breit und bedecken entweder gleichmäßig die Oberfläche oder wechseln in sanften, gestischen Faltungen die Richtung. Dies ist nicht das leidenschaftliche Schleudern der Farbe wie im Abstrakten Expressionismus, sondern ein methodischer Prozess des Tuns und Rückgängigmachens. Es ist auch keine minimalistische Übung, um die Grenzen des Materials abzustecken, sondern eine Dekonstruktion der Ausdrucksmöglichkeiten des Materials. Das grundlegende Merkmal dieser Gemälde, der Schauplatz, an dem ihre strukturalistische Untersuchung stattfindet, ist der lasierende Pinselstrich.

            Markus Saile – der für diese enigmatischen Gemälde verantwortliche Künstler – ist selbstverständlich nicht der erste, der den lasierenden Pinselstrich in den Vordergrund stellt. Seine Arbeit steht im Dialog mit Künstler_innen wie David Reed (1946–), Bernard Frize (1949–), James Nares (1953–) und Robert Janitz (1962–). Um das Spezifische von Sailes Praxis aufzuzeigen, ist es hilfreich, sie mit ihnen zu vergleichen. Offenkundig arbeiten alle genannten Künstler_innen in einem Maßstab, der weit über Sailes bescheidene Tafeln hinausgeht. Auch in ihrer Handhabung des Mediums und in ihrer Anordnung von Figur und Grund lassen sich Unterschiede ausmachen. Reeds erste postminimalistische Streifenbilder aus dicken, lässig aufgetragenen horizontalen Pinselstrichen in schwarzer oder roter Farbe entwickelten sich schnell zu Experimenten mit lasierender Farbe, die mit dem Pinsel oder Spatel in serpentinenförmigen Windungen auf Neo-Geo-Farbfelder aufgetragen wurde. Doch während Reeds klare rechteckige Felder und verschlungene Pinselstriche das heterogene Erscheinungsbild der Collage annehmen, entsteht bei Saile das Orthogonale und das Gewundene aus derselben Fläche. Bernard Frize untersucht, ebenso wie Saile, die Effekte, die entstehen, wenn der Pinsel mehrere Farben gleichzeitig aufnimmt. Frizes vereinzelte weiche Farbvorhänge oder ‑kaskaden erinnern an Sailes zarte Kompositionen, doch häufig forciert er seinen Farbauftrag zu achatähnlichen Schlieren, starren Gittern oder Korbflechtmustern, die im Gegensatz zu Sailes subtil modulierten Oberflächen stehen. Im Mittelpunkt von James Nares’ Praxis steht der gestische Einsatz eines einzigen, bandförmigen Pinselstrichs, durch dessen lasierenden Farbauftrag, ebenso wie in Sailes Arbeiten, oft die Illusion von Dreidimensionalität entsteht. Doch der triumphale Maßstab, in dem sie malt, und ihr genüsslicher Individualismus stehen in einem absoluten Gegensatz zu Sailes kleinformatigen, anonymen Tafeln. Durch die Art und Weise, wie Janitzʼ lasierende Pinselstriche einen Schleier erzeugen, durch den man ein mehrfarbiges Farbfeld sieht, kommt er Saile am nächsten. Doch er legt seine Pinselstriche über weiche Farbverläufe und erzeugt so einen starken Kontrast zwischen dem Gestischen und dem Mechanischen. Saile unterscheidet sich von all diesen Künstler_innen dadurch, dass die Spannungen in seinen Bildern nicht durch deren einzelne Elemente, sondern durch die Heterogenität ihrer Handhabung entstehen. Figur und Grund werden durch dieselben Pinselstriche, Farbe und Form durch dieselbe Schichtung erzeugt. Indem Saile die Vielseitigkeit des lasierenden Pinselstrichs nutzt, behandelt er Ölfarbe als Medium der Selbstdifferenz.

            In separate|related dient diese Selbstdifferenz als Organisationsprinzip, das von den „Pipes“, einer Serie hochformatiger schmaler Tafeln, symbolisiert wird. Wie der Ausstellungstext verrät, bezieht sich die Form dieser Gemälde auf ein typografisches Zeichen, das auch im Titel der Ausstellung erscheint. Für diesen senkrechten Strich gibt es viele Bezeichnungen. Der Begriff „Pipe“, der inzwischen geläufiger ist, stammt ursprünglich aus der Computerwissenschaft; er wird beim Programmieren verwendet, um eine Reihe von Prozessen zu einer „Pipeline“ zu verketten. Der Output eines Prozesses wird umgeleitet und zum Input eines anderen Prozesses, ohne auf dem Monitor angezeigt zu werden. Die Pipeline verbirgt also die Interprozesskommunikation, und wenn davon kein Protokoll erstellt wird, bezeichnet man dies als „anonyme Pipe“. Saile behandelt die Pipe mehr oder weniger wie einen Schrägstrich, der zwei Begriffe gleichzeitig verbindet und trennt (schließlich sind beide aus der mittelalterlichen virgula entstanden). Dies erinnert an den Signifikationsprozess, in dem Signifikant und Signifikat gleichzeitig getrennt und aufeinander bezogen sind: Ein Wort unterscheidet sich offenkundig von der Sache, auf die es sich bezieht, doch durch die Konventionen der Sprache hängen beide miteinander zusammen. Die neue Erkenntnis des Linguisten und Begründers der Semiotik, Ferdinand de Saussure, lautete, dass der Signifikant nicht nur getrennt vom Signifikat und auf dieses bezogen ist, sondern dass dies auch für sein Verhältnis zu allen anderen Signifikanten gilt. Es gibt also keinen Ursprung der Bedeutung, sondern nur eine Kette von Differenzen, deren Abläufe – ebenso wie die Interprozesskommunikation – dem Bewusstsein weitgehend verborgen bleiben. 

           Dass Saile bestimmte Gemälde „Pipes“ genannt hat, ist nicht so simpel, wie es zunächst scheinen mag.[iii] Die „Pipes“ sind nicht einfach Gemälde, deren Form sich auf senkrechte Trennstriche bezieht. Wenn man eines dieser Gemälde betrachtet, denkt man zweifellos: „This is not a pipe“, aber es ist auch nicht das Gemälde einer Pfeife, wie bei Magritte. Es ist auch keine „painted pipe“, als sei die Holztafel eine Pfeife gewesen, bevor sie bemalt wurde. Nein, das Gemälde selbst erhielt die Funktion einer Pipe, die darin besteht, einen im Verborgenen ablaufenden, übergreifenden Prozess auszulösen. Die Pipe konkretisiert also ein Merkmal, das für Sailes Werk auch jenseits dieser Ausstellung charakteristisch ist: seinen Versuch, das Verfahren zu reflektieren, durch das die Malerei Bedeutung erzeugt. Daher möchte ich sein Werk strukturalistisch interpretieren. Dazu passt, dass er einen typografischen „Strich“ wählt, um diese Eigenschaft zu symbolisieren, denn es handelt sich hier um einen Strukturalismus des Zeichens, nämlich des Pinselstrichs.

         Diese Eigenschaft verbindet Sailes Arbeit mit der von Robert Ryman, die Yve-Alain Bois als ein Dekonstruieren des Pinselstrichs beschrieb. Bois lehnt es ab, Rymans Praxis als eine Untersuchung des „Prozesses“ zu interpretieren. Der Rückgriff auf den „Prozess“, um Rymans Gemälde zu erklären, ist eine Reaktion auf ihre Unnachgiebigkeit – ein Versuch, ihre Bedeutung anderswo zu verorten. „Das Narrativ des Prozesses“, schreibt Bois, „legt eine primäre Bedeutung fest, einen ultimativen, ursprünglichen Referenten, der die Kette der Interpretationen durchtrennt. Das heißt, es wird eine Ästhetik der Kausalität wiedereingeführt, ein positivistischer Monolog, von dem wir dachten, dass die moderne Kunst ihn hinter sich gelassen hätte.“[iv] Aus Boisʼ Sicht, die von diesem Narrativ abweicht, bedient sich Ryman jedoch eher der Arbitrarität als der Kausalität. Seine wackligen weißen Pinselstriche betonen nicht die Flachheit der bemalten Oberfläche, sondern den Quotienten der Arbitrarität, die bleibt, nachdem das Gemälde auf seine Flachheit reduziert wurde. Saile erweitert die Dekonstruktion des Pinselstrichs, die Yve-Alain Bois an Robert Rymans Werk so bewunderte. Doch während Letzterer ein Meister der Opazität war, konzentriert sich Sailes Untersuchung auf Transluzenz. Ryman erforschte Figur und Grund durch die nackte Tatsache des Auftragens, nicht nur des Auftragens der Farbe auf das Trägermaterial, sondern auch des Trägermaterials auf die Wand (weshalb ihn die Befestigung so faszinierte). Bei Saile hingegen wird das Auftragen unbestimmt: Die Farbe ist so stark verdünnt, dass der Akt des Auftragens ebenso dazu dient, diese zu entfernen. Ein neuer Pinselstrich wird oftmals ebenso in die Oberfläche eingetragen, wie er auf diese aufgetragen wird.

       Diese Verdünnung und Transparenz erzeugen einen zufallsbedingten Illusionismus, eine Dimension der Arbitrarität, die in Rymans Werk nie untersucht wurde. Indem die Borsten das durchscheinende Medium ungleichmäßig auf der Oberfläche ablagern, nimmt der Pinselstrich die Gestalt von Farnwedeln, Federn, Regenschauern, Bändern, Schleiern, Haarlocken oder Muschelschalen an. Der Effekt dieser gefalteten und abgeflachten Pinselstriche ist eher ein Gefühl von Potenzialität als von Determiniertheit. Sehen Sie sich das beinahe quadratische, grafitgraue Gemälde genauer an (S. 25). Es ist in drei vertikale, ähnlich wie Lauchstangen fein linierte Bahnen unterteilt. Deren mittleren Bereich flankieren zwei gebogene Pinselstriche, wobei sich der eine Pinselstrich verwegen in den Raum der Betrachter_innen vorzudrängen scheint, während sich der andere scheu hinter der dominierenden Vertikale zurückzieht. Trotz seiner morbiden Farbigkeit hat das Gemälde die organische Vitalität eines Pflanzenstiels, der wie eine Nahaufnahme von Blossfeldt symmetrisch gerahmt ist. Der lasierende Pinselstrich eignet sich besonders, diesen Eindruck von Fleischigkeit, Wachstum und Bewegung zu vermitteln und der Farbe Lebendigkeit zu verleihen. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Lebendigkeit eher wie eine Eigenschaft des Mediums erscheint als eine des Künstlers, der dieses handhabt.

         Diese Beschreibung erinnert womöglich an neuere Texte über Malerei, insbesondere an David Joselits Netzwerktheorie der Malerei und Isabelle Graws Beschreibung einer vitalistischen Ökonomie der Malerei.[v] Doch Joselit und Graw verorten die Handlungsfähigkeit oder Vitalität des Kunstwerks im Verhältnis zwischen dem Objekt und etwas außerhalb von ihm Liegenden, und nicht in einer internen oder immanenten Relation, die ich in Sailes Werk erkannt habe. Für Joselit visualisiert die Malerei ihre Position in einem Netzwerk, indem sie für die Künstler_innen oder das Publikum „eine Art Person“ (personage) oder ein „Gegenüber“ wird. Die Begrenztheit dieser Argumentation liegt in der impliziten Annahme, dass ein Gemälde nur als Objekt in einem Netzwerk visualisiert werden kann, wenn es stellvertretend für einen menschlichen Agenten steht. Auch Graw beschreibt das Gemälde als Stellvertreter für einen menschlichen Agenten, insbesondere für Künstler_innen. Sie argumentiert im Rückgriff auf die marxistische Werttheorie, dass die Malerei Fantasien von nichtentfremdeter Arbeit nähre, als sei sie eine natürliche Erweiterung ihrer Schöpfer_innen. Für Joselit und Graw ist die Lebendigkeit der Malerei von Menschen geborgt, die die eigentlichen Agenten sind. Auch in meiner Lesart von Sailes Gemälden ist deren Vitalität geborgt, aber nicht von Menschen. Vielmehr ist dieser Eindruck von Lebendigkeit vom Zeichensystem geborgt. Diese nichtmenschliche Belebtheit wirkt unheimlich, daher ist es verführerisch, zu versuchen, Sailes Gemälde wieder in ein menschliches Bezugssystem einzuschreiben. So interpretiert Baptist Ohrtmann in seinem Essay „Time Batteries“[vi] das Horizontale und Vertikale in Sailes Gemälden als Evokationen von Landschaft beziehungsweise des Körpers. Doch ein solcher Verweis auf eine universelle, gegebene Figur/Grund-Beziehung, die in einer anthropozentrischen Perspektive verankert ist, lässt sich in separate|related nicht finden. Die zugespitzte Vertikalität der Pipe ist kein humanistisches Porträtformat, sondern eine antihumanistische Chiffre: Sie zeigt, dass das Subjekt von der Sprache belebt wird und nicht umgekehrt.

Dieser Prozess der Belebung, der durch die Illusion von Lebendigkeit, die Sailes lasierender Pinselstrich vermittelt, greifbar wird, hat etwas Geheimnisvolles. Illusionismus erfordert ein Gefühl von Räumlichkeit, doch Sailes Werk übernimmt nicht die optische Räumlichkeit der Nachrenaissancemalerei – die mit einer festen Subjektposition zusammenhängt –, sondern die traumartige, dezentrierte Räumlichkeit des Surrealismus. Dieser Illusionismus scheint vom Material selbst auszugehen, wie die fantastischen Formen, die durch automatische Techniken wie Décalcomanie, Fumage oder Grattage erzeugt werden. Anstatt die Bedeutung der Arbeit in ihrem Herstellungsprozess zu verorten, lassen solche Prozesse eine Bedeutung erkennen, deren Ursprung fremd und unbestimmt ist. Die Surrealist_innen steigerten die unheimlichen Aspekte dieser automatischen Techniken oft, indem sie die so entstandenen Formen mit illusionistischen Merkmalen wie Gesichtern oder Schatten versahen, die diese Formen in Landschaften oder Ruinen oder monströse Körper verwandelten. Saile zeigt, wie unnötig solche Änderungen sind. Mit seinen lasierenden Pinselstrichen führt er vor, dass die malerische Geste selbst die Spannung zwischen Automatismus und Illusionismus aufrechterhalten kann. Und er tut dies ohne das Jungianische Geschwafel der Abstrakten Expressionist_innen, denn es ist nicht sein eigenes Unbewusstes, das durch das Medium der Farbe spricht, sondern das Unbewusste des Mediums, ein Unbewusstes, das wie eine Sprache strukturiert ist. Das einzige Anzeichen seiner untergründigen Operation ist die Brühe, die durch eine anonyme Pipe sickert.

 

[i] Yve-Alain Bois: „Ryman’s Tact“, in: Painting as Model, Cambridge, MA: MIT Press 1990, S. 226.

[ii] separate|related wurde vom 11. Oktober bis 29. November 2020 im NAK – Neuer Aachener Kunstverein gezeigt und fand im Rahmen der Ausstellungsreihe TWODO Collection statt, die jedes Jahr ein Projekt im NAK realisiert.

[iii] Anm. d. Übers.: „Pipe“ lässt sich auch mit „Pfeife“ oder „Leitungsrohr“ übersetzen. 

[iv] Bois 1990 (wie Anm. 1), S. 216.

[v] Siehe David Joselit: „Die Malerei neben sich“, Übers. Robert Schlicht und Clemens Krümmel, in: The Happy Fainting of Painting. Ein Reader zur zeitgenössischen Malerei, hg. von Hans-Jürgen Hafner und Gunter Reski, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2014, S. 59–61; Isabelle Graw: Die Liebe zur Malerei. Genealogie einer Sonderstellung, Zürich/Berlin: Diaphanes 2017, und „Notes on the exhibition The Vitalist Economy of Painting“, der Begleittext zur Ausstellung, die sie für die Galerie Neu in Berlin kuratierte (15. September – 7. November 2018).

[vi] Baptist Ohrtmann: „Time Batteries“, in: Markus Saile: Time Batteries, hg. von Markus Saile, Köln 2019, S. 53–57.

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